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Lara Salewski
Digitalisierung – Veränderung von Zeitstrukturen und Kommunikation in Familien
Sehr geehrte Seminarteilnehmende,
ich freue mich sehr, hier zu sein und bedanke mich herzlich für die Einladung. In meinem heutigen Vortrag
wird es um zwei wesentliche Aspekte der Digitalisierung gehen: Die Veränderung von Zeitstrukturen und
die Veränderung von Kommunikation. Als Vertreterin der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft Familie möchte
ich diese Phänomene besonders aus Perspektive der Familien darstellen.
Mein Vortrag gliedert sich in vier Teile:
1. Digitalisierung – eine Einführung
2. Zeitstruktur
3. Kommunikation
4. Fazit
1. Digitalisierung – eine Einführung
Digitalisierung ist ein Prozess, der unumkehrbar und hochgradig ambivalent ist. Die Digitalisierung beeinflusst alle gesellschaftlichen
Bereiche und betrifft jede und jeden von uns als Individuum. Digitalisierung verändert unser Selbst- und Weltverständnis
und somit auch unser Zusammenleben.
Durch Digitalisierung entsteht ein Spannungsfeld. Auf dessen einen Seite herrscht Orientierungslosigkeit, zum Teil auch Angst.
Wir sehen Gefahren, Risiken und Herausforderungen. Digitalisierung schafft neue Abhängigkeitsstrukturen und Dimensionen
des Kontrollverlustes – Stichwort Datensicherheit. Auf der andern Seite gewinnen wir durch Digitalisierung neue
Möglichkeiten und Freiheiten. Sie birgt viele Chancen und erweitert unseren Horizont enorm. Wir sind neugierig
und verknüpfen Hoffnung mit gewissen Prozessen.
In diesem Spannungsfeld gibt es zahlreiche Akteur*innen – zum Beispiel aus der Wirtschaft, und der Politik.
Auch wir sind ein Teil davon und gestalten es aktiv mit. Die Ambivalenzen und Spannungen werden bestehen bleiben.
Unser Ziel kann und muss sein, dass wir in dem Feld die bestmögliche Orientierung finden und uns Handlungssicherheit
verschaffen – als Individuen aber auch als Familien.
2. Zeitstruktur
„Ich habe keine Zeit“, „ich nehme mir Zeit“, „unter Zeitdruck stehen“, „die Zeit rast“, „die Zeit tröpfelt
so dahin“ – Wir alle kennen diese und noch zahlreiche weitere Redewendungen über die Zeit. Zeit ist für uns
ein selbstverständliches Phänomen. Unser Alltag ist getaktet durch Zeitpunkte und -räume. Wir messen die Zeit
in Stunden, Minuten und Sekunden, wir setzen Termine und entwerfen Zeitpläne – privat wie beruflich.
Auf wissenschaftlicher Ebene liegen verschiedene Zeitverständnisse vor. Je nachdem, welche Disziplin sich mit
der Zeit als Forschungsgegenstand beschäftigt, werden unterschiedliche Aspekte betrachtet und Merkmale definiert.
In der Physik ist Zeit eine wichtige Größe zur Messung von Geschwindigkeit. Psychologie und Neurologie befassen
sich hingegen mit der Frage, wie persönliches Zeitempfinden entsteht und warum wir beispielsweise manchmal
das Gefühl haben, dass eine Stunde wie im Flug vergeht und ein anderes Mal denken, dass 60 Minuten uns wie eine
halbe Ewigkeit vorkommen. Sozialwissenschaftler*innen wiederum betrachten Zeit meist unter dem Aspekt, dass diese
nur im kontinuierlichen Verlauf zu verstehen ist, immer im Kontext von Vergangenheit und Zukunft. Diese Auffassung
spielt auch in der philosophischen Betrachtung von Zeit eine Rolle, bei der unter anderem jene Eigenschaften von Zeit
diskutiert werden, die dieses Phänomen so schwer greifbar machen, wie die Frage, ob es einen Anfang der Zeit gab.
Zeitbestimmung – Zeitgestaltung
Die Zeitgestaltung eines Tages war vor der Digitalisierung meist gesteuert von mehr oder weniger fixen Abläufen,
die aufgrund gegebener Rahmenbedingungen notwendig waren. Im Familienleben gab es meist feste Essenszeiten,
die gesellschaftlich üblich waren. Öffnungszeiten von Behörden und Geschäften bestimmten die Zeiten für Einkäufe
und Erledigungen und Radio- bzw. Fernsehprogramme regelten, wann man sich über diese Medien informieren
oder unterhalten lassen konnte.
Heutzutage sind diese zeitlichen Vorgaben aufgeweicht. Im digitalen Zeitalter spielt der Faktor Uhrzeit
für viele Aktivitäten keine Rolle mehr. Im Internet können wir rund um die Uhr einkaufen, viele behördliche
Anliegen sowie Bank- und Versicherungsangelegenheiten sind online durchführbar – ebenfalls unabhängig
von der Tages- oder auch Nachtzeit. Über unterschiedliche Medien ist es möglich, jederzeit auf Nachrichten
oder verschiedene Unterhaltungsprogramme zurückzugreifen und wer über die technischen Voraussetzungen verfügt,
kann stets online sein und mit anderen Menschen über diverse digitale Kanäle kommunizieren.
Übliche gesellschaftliche Zeitstrukturen verwischen. Selbst Arbeitszeiten werden nahezu beliebig, wenn man
von der Möglichkeit des Home-Office gebraucht macht, ebenso wie Bildungsaktivitäten über Internetkurse oder ähnliches.
Zeitstrukturen in der Familie
Die fortschreitende Mediatisierung und Digitalisierung der Gesellschaft hat umfassende Folgen sowohl
für den einzelnen Menschen als auch für Familien. Die Möglichkeiten der Nutzung von Zeit werden zunehmend
zahlreicher und vielfältiger. Die Komplexität von Zeitgestaltungsoptionen hat sich in den vergangenen
Jahren enorm erhöht. Betrachten wir beispielhaft eine fiktive vierköpfige Familie – die Mutter,
der Lebensgefährte der Mutter, zwei Söhne, Josh ist neun Jahre alt und Phil 14 Jahre. An einem gewöhnlichen
Mittwoch ergeben sich extern vorgegebene Zeitstrukturen aus gewissen Verpflichtungen der einzelnen
Familienmitglieder, die eine genaue Zeiteinhaltung erforderlich machen. Die Kinder sind schulpflichtig
und müssen sich an Unterrichtszeiten halten. Die Mutter arbeitet als Stationsärztin in einem Krankenhaus
und hat an diesem Mittwoch Frühdienst. Phil hat um 16.00 Uhr einen Frisörtermin, Josh um 17.00 Uhr
Schlagzeugunterricht in der Musikschule. Die Aufzählung ließe sich noch um einige weitere Punkte
ergänzen, bei denen eine Zeitbestimmung von außen gegeben ist. Vieles im Alltag ist durch Digitalisierung
jedoch zeitunabhängig zu gestalten. Das Einsehen der Kontoauszüge, das Buchen des nächsten Urlaubes,
die Bestellung einer neuen Waschmaschine – all dies können die Eltern jederzeit online erledigen.
Da der Lebensgefährte der Mutter mittwochs und freitags Home-Office nutzt, kann er sich seine
Arbeitszeit an diesen Tagen frei einteilen und Phil kann die Informationsrecherche zu seinem
Referatsthema unabhängig von Öffnungszeiten der Bücherei in Angriff nehmen. Digitalisierung
ermöglicht viele Aktivitäten ohne Abhängigkeit von Zeitabschnitten und Orten durchzuführen.
Diese Optionen eröffnen uns Zeitgestaltungsfreiräume, die wir weitaus vielfältiger nutzen können
als Menschen, die ohne digitale Techniken gelebt haben oder noch leben.
Deutlich erkennbar ist, dass der gesellschaftlich gegebene Zeittakt mehr und mehr verlorengeht.
Was daraus folgt, ist die anspruchsvolle Aufgabe für das Individuum, sich selbst eine Taktung
zu setzen. Die meisten Menschen brauchen einen gewissen Rhythmus und benötigen Strukturen um sich
sicher und wohl zu fühlen. Ferner ist der Rückgang bestimmter Zeitmuster auch auf sozialkultureller
Ebene zu beobachten. Institutionen, die lange Jahre Vorgaben zur Zeitnutzung und -einteilung
gemacht haben, verzeichnen rückläufige Mitgliederzahlen und bemerken, dass ihre regelmäßigen
zeitlich vorgegebenen Veranstaltungen immer weniger nachgefragt werden. Auch wenn die Kirchenglocken
vielerorts noch läuten, erfüllen sie ihren ursprünglichen Zweck, die Menschen zum Gottesdienst
zu rufen, nur noch marginal. Auch den Tag der Arbeit nutzen viele Beschäftigte nicht mehr,
um sich an Kundgebungen zu beteiligen, sondern als zusätzlichen freien Tag. Wer heute allgemein
gültige Zeitbestimmungen festlegen möchte, muss mit Kritik und Abwehr rechnen. Dies betrifft
sowohl die Diskussion um die Einhaltung der Nachtruhe während Fußballwelt- bzw.
Fußballeuropameisterschaften als auch die Debatte um verkaufsoffene Sonntage.
Verändert sich Zeit durch Digitalisierung?
Bezogen auf das Phänomen Zeit an sich verändert Digitalisierung im Kern jedoch nichts.
Ein Tag hat nach wie vor 24 Stunden, ein Jahr üblicherweise 365 Tage. Digitalisierung schafft
weder Zeit noch frisst sie Zeit, sie ermöglicht uns lediglich Zeit anders zu nutzen – genauso
wie auch andere Erfindungen und Entwicklungen unseren Umgang mit der Ressource Zeit maßgeblich
verändert haben. Zu nennen seien hier beispielhaft das Rad, Elektrizität oder auch die Schrift.
Wir können keine Zeit sparen, wenn wir gewisse Aufgaben im Haushalt technisch bzw. digital
gesteuert erledigen lassen, statt sie selbst durchzuführen. Es ist mir zwar möglich den Backofen
per Smartphone von einem beliebigen Ort anzuschalten, aber ich gewinne dadurch keine Minute mehr
Zeit am Tag. Was ich aber gewinne, ist die Freiheit, die Zeit, die ich habe, anders zu nutzen
als nach Hause zu fahren und den Backofen anzustellen. Mehr Freiheiten zu besitzen, ist zunächst
einmal positiv. Es impliziert jedoch auch, mehr Verantwortung übernehmen zu müssen. Freiheit heißt,
sich entscheiden zu können, aus unterschiedlichen Möglichkeiten wählen zu müssen. Hier ergeben sich
im Hinblick auf den Faktor Zeit nicht zu unterschätzende Herausforderungen. Für Familien bedeutet das,
sich vermehrt selber Zeitstrukturen aufzubauen, Regeln zu bestimmen, Vereinbarungen zu treffen,
Rituale zu pflegen. Es stellen sich Fragen, die es im Zusammenhang mit immer mehr
Auswahloptionen zu beantworten gilt: Werden Zeiträume festgelegt, in denen es um das persönliche
Erleben von Gemeinsamkeit geht – mit Gesprächen, Berührungen, unmittelbaren Kontakten? Wie wird damit
umgegangen, dass jedes Familienmitglied prinzipiell jederzeit über das Smartphone erreichbar sein
könnte – gibt es hier gewisse „Auszeiten“, in denen Einflüsse von außen „abgeschaltet“ werden? Wie
erfolgt die Trennung von Arbeits- und Freizeit, wenn die Familienmitglieder auch von Zuhause aus arbeiten?
Was sich jedoch trotz des kontinuierlichen Verlaufs von Stunden, Tagen und Jahren im Kontext
der Digitalisierung massiv verändert, ist das persönliche Zeiterleben. Der vor allem von
dem Soziologen Hartmut Rosa geprägte Begriff der Beschleunigung1 ist das Stichwort, das die
Dynamik unserer Mobilität und Kommunikation treffend auf den Punkt bringt. Immer geht es um weiter,
mehr und besser in weniger Zeit. Diese Veränderungen erzeugen beim Individuum Druck. Viele Menschen
empfinden Zeitnot, fühlen sich gehetzt und leiden unter Stresssymptomen. Wie wir Zeit erfahren,
hat viel damit zu tun, in welchem Umfeld wir leben und welche Anforderungen an uns gestellt werden.
Es hängt aber auch damit zusammen, wie wir uns selbst zum Zeitverlauf positionieren. Empfinde
ich mich als jemand, der der Zeit hinterherläuft, der getrieben wird von externen Einflüssen?
Oder empfinde ich mich als Zeitgestalter*in, als jemand, dem die beschleunigten Umweltbedingungen
bewusst sind und der selbst entscheidet, wann und inwiefern er sich von dem Sog mitziehen lässt?
Es lässt sich sicher nicht durchgängig vermeiden, auch mal unter Zeitstress etwas erledigen zu müssen,
dennoch bestehen für das Individuum immer auch Freiräume, in denen Entschleunigung möglich ist.
1 Rosa, Hartmut, 2016: „Beschleunigung und Entfremdung - Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit“.
2 McKinsey & Company, 2016: „Digitalisierung in deutschen Haushalten – Wie Familien mehr Qualitätszeit
gewinnen können“ – abrufbar unter: https://www.mckinsey.de/files/mck_digitalisierung_in_privaten_haushalten.pdf
Qualitätszeit – Eine Frage der Definitionsmacht
In einer Studie von McKinsey & Company in Zusammenarbeit mit dem Bundesfamilienministerium
und Microsoft ist von Qualitätszeit die Rede2. Versucht wird hier, Zeit in unterschiedliche
Qualitätsstufen einzuteilen. Zeit für Familienausflüge wird als Qualitätszeit bewertet,
Zeit für haushaltsnahe Aktivitäten nicht. Macht eine solche Auf- und Abwertung von Zeit Sinn?
Ist Zeit an sich überhaupt qualitativ zu beurteilen? Oder ist es vielmehr die Gestaltung der
Zeit, die wir als besser oder schlechter definieren können – und dies durchaus subjektiv.
In der Logik der Wirtschaft macht die Unterscheidung von Qualitätszeit und weniger qualitativer
Zeit natürlich Sinn, geht es doch im Kern darum, Produkte anzuwerben, die dem Menschen Aufgaben,
deren Erledigungen als nicht qualitativ hochwertig angesehen werden, abnehmen oder zumindest
soweit erleichtern, dass die zu erbringende Zeit deutlich reduziert wird – selbstgesteuerte
Staubsauger, Küchenmaschinen, die nach Zugabe der Zutaten, diese eigenständig zu einem
Lebensmittel verarbeiten oder ähnliche technische Raffinessen. Aus der Perspektive des Individuums
sind solche vorbestimmten Wertungen jedoch mit Vorsicht zu behandeln. Hier ist Reflexion
gefragt – möchte ich mir die Einschätzung meiner Zeitnutzung von außen vorgeben lassen,
oder möchte ich lieber selber entscheiden, was für mich eine hochwertige Zeitnutzung
darstellt und was für mich weniger wertvoll ist? Es könnte sein, dass unsere Beispielfamilie
von oben gar keine vollautomatische Küchenmaschine möchte, weil sie sehr gerne kocht
oder backt – einzelne Familienmitglieder alleine sowie zum Teil auch gemeinsam als
verbindendes Element. Keine Frage, viele technische und digitalisierte Dinge sind
einfach praktisch – die Bewertung sollte aber jeder Mensch für sich vornehmen.
Selbstbestimmung – Wer entscheidet für mich was ich wo, wann und wie digital nutze?
Letztendlich geht es beim Thema Digitalisierung um die Frage der Selbstbestimmung.
Es ist erforderlich, für mich und meine Familie eine Balance zwischen digital und nicht digital
herzustellen, immer wieder neu und vermutlich auch immer wieder unterschiedlich – je nach
aktuellem Kontext und individuellen Empfindungen. Um selbstbestimmt zu bleiben, muss ich
reflektieren, mir selbst bewusst werden, eine Haltung zeigen. Dies ist keineswegs
eine einfache Aufgabe und im digitalisierten Zeitalter bezieht sich diese Herausforderung
nicht nur auf die Gegenwart, sondern auch auf die Vergangenheit bzw. die Zukunft.
Nie zuvor haben Daten unsere Vergangenheit in dem Ausmaß gespeichert und verbreitet
wie heutzutage. Die digitale Datenspeicherung ermöglicht eine Quantität an Aufbewahrung
von Informationen, die zahlenmäßig kaum noch abzubilden ist. Möchten wir selbst
die Oberhand über unsere persönlichsten Anliegen behalten, brauchen wir einen aufmerksamen
Umgang mit digitalen Möglichkeiten. In Familien führt daher kein Weg an der
gemeinsamen Auseinandersetzung über Art und Umfang digitaler Nutzung vorbei.
Zwischenfazit: Wie nutzen wir Zeit? – Digitalisierung ist keine Ausrede
Digitalisierung ist eine Tatsache. Sie gehört zu unserem Leben dazu und sie wird sich
weiterentwickeln und umfassender werden. Unser Alltag wird durch zahlreiche digitale
Elemente beeinflusst und wir erhalten durch sie mehr Möglichkeiten unser Leben zu gestalten.
Wir nutzen sie und profitieren enorm durch die neuen digitalen Medien. Der Verantwortung
des Umgangs mit ihr können wir uns allerdings nicht entziehen. Auch wenn es uns manchmal
so vorkommt, als wenn wir der „digitalen Welt“ als einzelne Person unterlegen sind,
sollten wir uns damit nicht abfinden. Letztendlich können wir selbst entscheiden,
wie und in welchem Umfang wir sie nutzen. Viele Aufgaben lassen sich digital
schneller und einfacher erledigen. Fakt ist aber auch, dass die Beschäftigung
mit digitaler Technik auch Zeit einfordert! Wir investieren viele Stunden in der
Woche für unsere Arbeit und Kommunikation mit und über Smartphones und andere
Techniken. Dessen sollten wir uns bewusst sein. Was das für Familien bedeutet,
welche Chancen und Herausforderungen sich im Kontext der digitalen Umwelt für sie
ergeben, wurde in diesem Beitrag aufgezeigt. Letztendlich kommt es darauf an,
wie die einzelnen Familienmitglieder ihr Miteinander gestalten, mit und ohne
digitale Techniken. Bedeutsam ist das Gespräch darüber, welche (zeitlichen)
Strukturen sich die Familie gibt, so dass es jedem Familienmitglied damit gut
geht und genug Zeit für „aktive“ Gemeinschaft, für das gemeinsame Erleben
und Zeitverbringen bleibt. Denn davon lebt Familie – vom Kontakt und dem Gefühl
der Zusammengehörigkeit (damit ist nicht zwangsläufig eine harmonische
Zusammengehörigkeit gemeint). Digitalisierung kann hierfür nützlich sein – sie
ermöglicht Kommunikation über Entfernungen und das zeit- und ortsunabhängige
Erledigen gewisser Aufgaben, sodass mehr Zeit für die Begegnung in der Familie
bleibt. Wenn wir uns reflektiert in der digitalen Welt bewegen und die Bodenhaftung
in der physischen Wirklichkeit nicht verlieren, können wir durch Digitalisierung
vieles gewinnen.
3. Kommunikation
Im Kontext des enormen Fortschritts im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien
(IKT) vervielfältigen sich die Formen, wie Menschen miteinander kommunizieren können.
Digitale Kommunikationsweisen gewinnen zunehmend an Bedeutung. Die meisten Menschen
verfügen über mindestens ein technisches Gerät, mit dem sie digital kommunizieren
können. „Online“ sein ist zur Normalität geworden, per Tablet, Smartphone und anderer
Technik können wir von nahezu überall auf das Internet zugreifen. Wie so vieles
wird auch Kommunikation komplexer. Grundsätzliche Kommunikationsmodelle (z. B. Watzlawick3
oder Schulz von Thun4) betrachten Kommunikation als Austausch von Informationen – vereinfacht
dargestellt zwischen einem Sender und einer/einem Empfänger*in. Definiert werden verschiedene
Ebenen, die innerhalb des Kommunikationsprozesses eine Rolle spielen, beispielsweise eine
Sachebene und eine Beziehungsebene. Deutlich wird durch diese Modelle, dass Kommunikation
immer ein interaktiver Prozess ist, an dem zwei (oder mehr) Personen beteiligt sind,
die miteinander interagieren. Jede Person sendet Signale aus, empfängt Signale und
interpretiert diese so, wie es für sie in dieser Situation offensichtlich erscheint.
3 Beavin, Janet H./ Jackson, Don D./ Watzlawick, Paul (2011): Menschliche Kommunikation:
Formen, Störungen, Paradoxien, Hogrefe, vorm. Verlag Hans Huber, 12. Auflage.
4 Schulz von Thun, Friedemann (2010): Miteinander reden 1: Störungen und Klärungen:
Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 48. Auflage.
Dieser Kern von Kommunikation – dieses Zusammenspiel zwischen Senden, Empfangen und
Interpretieren – bleibt auch Grundlage digitaler Kommunikation. Dennoch finden sich
wesentliche Unterschiede zwischen verschiedenen Kommunikationsarten.
Sinneswahrnehmungen
Die markantesten Unterschiede finden sich, wenn wir die unterschiedlichen Formen von
Kommunikation im Hinblick darauf betrachten, inwiefern die Kommunikationspartner*innen
sich gegenseitig direkt über Sinneswahrnehmungen erfahren. Ein umfassendes Sinneserleben
des Gegenübers ist ausschließlich bei der direkten face-to-face-Kommunikation möglich.
Hier hören, sehen, riechen und fühlen sich Menschen unmittelbar. Beim Küssen wird darüber
hinaus auch der Geschmackssinn angerengt. Dieses Alleinstellungsmerkmal von face-to-face-Kommunikation
ist nicht zu unterschätzen. Durch die direkte vielschichtige Wahrnehmung des Gegenübers wird die
Interaktion zwischen zwei Menschen komplex und intensiv. Lügen, Schauspielern, sich verstellen
ist bei dieser unmittelbaren Kommunikation weitaus schwieriger. Durch das zeit- und ortsgleiche
Interagieren ist ein sich Entziehen aus der Kommunikation ohne dass das Gegenüber es sofort bemerkt,
kaum möglich. Je vertrauter die Beziehung zwischen den Kommunikationsbeteiligten ist, desto vertrauter
sind auch die Settings und Verhaltensweisen innerhalb der Kommunikation. Dies ist gerade in Familien
relevant. Erwachsene und Kinder erfahren innerhalb der Familiengemeinschaft Nähe und Verbundenheit,
die durch mehr oder weniger alltägliche, direkte face-to-face-Kommunikation, getragen und gestaltet
wird. Der Trend, dass digitale Kommunikation immer stärker im Familienkontext eine Rolle spielt,
beeinflusst die Kommunikationszusammenhänge in den familiären Gemeinschaften.
Auf der einen Seite kann beobachtet werden, dass Familienmitglieder im familiären Nahraum
(Wohnung, Haus, Garten, während gemeinsamer Aktivitäten) zunehmend online sind und über ihr Smartphone
o. ä. nebenbei mit anderen Personen(gruppen) digital kommunizieren. Dies kann die unmittelbare
Kommunikation vor Ort irritieren und stören und zu Konflikten führen. Diese Konflikte auszutragen,
wird mit Aufkommen immer neuer Techniken verstärkt Aufgabe von Familien sein. Kommunikation
über Kommunikation wird vermutlich ein häufiger Bestandteil familiärer Diskussion werden.
Auf der anderen Seite erweitern digitale Kommunikationsmedien die Möglichkeiten des Kontaktes
zwischen Familienmitgliedern enorm. Sowohl innerhalb der Kernfamilie als auch darüber hinaus
wird das Aufrechterhalten des Kontaktes durch die verschiedenen Medien einfacher – unabhängig
von orts- und zeitbezogenen Faktoren. Diese Erweiterung der Möglichkeiten kann positiv empfunden
werden. Beziehungen können über Entfernungen enger gehalten werden, der Einbezug der Partnerin/ des Partners
in den persönlichen Alltag ist durch WhatsApp und Co auch dann machbar, wenn der/die Partner*in
in weiter Entfernung wohnt. Allerdings können diese allzeit verfügbaren Kontaktoptionen auch Druck ausüben.
Menschen können sich durch ständige Nachrichten kontrolliert, manipuliert oder gestresst fühlen.
Auch diesbezüglich ist ein vermehrter Austausch über das Was, Wann, Wie an Kommunikation unabdingbar.
Zeit und Ort
Zeit- und Ortsfaktoren spielen in einer individualisierten Gesellschaft wie der unseren, indem
das Individuum sein Leben immer umfassender unabhängig und individuell gestalten will bzw. muss,
eine bedeutende Rolle. Die vermehrte Nutzung digitaler Kommunikationsmedien ist sicherlich auch eine
Folge des Lebenswandels allgemein. In eine Telefonzelle zu gehen, um zu telefonieren oder ein Netzwerkkabel
einstecken zu müssen, um ins Internet zu kommen, all das empfinden viele als lästige Einschränkung.
Ferner sind wir es durch die etablierten IKT gewohnt, Nachrichten zu senden, ohne darauf angewiesen
zu sein, dass die/der Empfänger*in zeitgleich diese Nachricht annimmt. Die Folge des digitalen Sendens
und Empfangens ist eine erhöhte Verantwortungsübernahme. Aufgrund der Tatsache, dass viele Menschen
fast immer erreichbar sind und prinzipiell immer Nachrichten senden und empfangen können, müssen
sie permanent Entscheidungen treffen, welche Nachrichten sie tatsächlich an wen schreiben bzw.
welche Informationen sie übermitteln und welche Nachrichten sie annehmen/lesen. Diese Anforderung
kann für einige Personen zu einer Überforderung werden. Sich selbst und seine Kommunikationsnetzwerke
derart umfänglich managen zu müssen, kann Druck ausüben und zu Stress- und/oder Überlastungssymptomen
führen. Familien sind der Ort, wo diese Folgen von Überforderung letztendlich Auswirkungen haben.
Eltern und/oder Kinder bringen ihre Gefühlslagen und ihre Probleme in die Familie ein. Bei schwierigen
Belastungssituationen eines oder mehrerer Familienmitglieder kann es zu Spannungen innerhalb der Familie kommen.
Emotionen und Bewertungen
Weitere deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Kommunikationsarten werden sichtbar, wenn es um das
Ausdrücken von Emotionen geht. Im persönlichen Gespräch werden Gefühle oftmals indirekt vermittelt.
Anhand von Tonlagen und Sprachweisen kann die Empfängerin / der Empfänger einen Eindruck von
der Emotionslage der sendenden Person gewinnen. Im face-to-face-Kontakt kommen darüber hinaus auch
die bedeutsamen Ausprägungen von Gestik und Mimik hinzu. All das fällt bei einfachen Textnachrichten weg.
Das Risiko, dass dadurch Missverständnisse entstehen, ist relativ hoch. Zur Unterstützung der Textnachricht
nutzen viele Menschen daher Emoticons. Durch das Hinzufügen eines auf bestimmte Weise schauenden Smileys,
soll für die/den Empfänger*in erkennbar werden, wie die Aussage gemeint ist (z. B. ironisch) oder in welcher
emotionalen Verfassung die/der Verfasser*in die Nachricht geschrieben hat (z. B. Ärger). Diese unterstützenden
Optionen können sehr hilfreich sein und das gegenseitige Verstehen zweier Dialogpartner*innen deutlich optimieren.
Dennoch sind diese Ausdrucksweisen auch kritisch zu sehen. Emotionen sind komplex und vielschichtig. Sie laufen
zum Teil unterbewusst ab. Eine verbildlichte Darstellung ist nicht immer ausreichend möglich. Die Tiefe und
Reichweite der gegenseitigen Empathie ist daher durch eine textbasierte, durch Bilder, Symbole und Zeichen
unterstützte Kommunikation nicht so ausgeprägt wie bei unmittelbarem Kontakt von Angesicht zu Angesicht.
Ein letzter Aspekt, auf den in diesem Beitrag eingegangen werden soll, ist die Funktion des Bewertens,
die zahlreiche Kommunikationsdienste anbieten. Sehr verbreitet und bekannt ist das Liken auf facebook.
Durch das Klicken auf einen einzigen Button kann eine Person ausdrücken, dass ihr etwas gefällt. Diese
und zahlreiche andere Ermunterungen, seinen Kommentar bzw. sein Urteil über etwas (ein Produkt, einen Mensch,
eine Handlung, einen Ort, usw.) online und öffentlich abzugeben, hat dazu geführt, dass viele Menschen
ihre Meinung und ihre Haltung extrem häufig bekanntgeben. Für viele Menschen ist das Urteilen „normal“
geworden. Es geschieht spontan, beiläufig, mehr oder minder unreflektiert. Die vermehrte Anwendung dieser
Funktionen bewirkt, dass sich die Urteilskultur verändert. Personen, Dinge und Geschehnisse öffentlich
zu beurteilen war früher mit wesentlich mehr Vorsicht und Respekt verbunden. Mittlerweile ist es üblich
geworden. Die gesunkene Hemmschwelle, seine Meinung vor einem großen Personenkreis darzulegen, stößt an
die Grenzen zeitbedingter Anstands- und Moralvorstellungen und wirft grundlegende ethische Fragen auf.
Kommentieren und Beurteilen sind zu gewöhnlichen Kommunikationsinhalten geworden. Da Menschen über digitale
Medien immer mehr von sich selbst Preis geben, wachsen auch die Anknüpfungspunkte für Bewertungen.
Diese Entwicklung hat unter anderem auch Einfluss auf das Miteinander in Familien. Einmal mehr muss
Familie sich hier selbst Schutz- und Privaträume erschaffen, die von allen Familienmitgliedern akzeptiert
werden. Dies ist eine große Herausforderung, vor allem wenn Familienmitglieder im Hinblick auf die Weitergabe
von Informationen und Fotos ein unterschiedliches (Scham-)Empfinden haben.
Kommunikation im digitalen Zeitalter – die Dimension dieses Feldes ist riesig. Kommunikation ist
ein zentrales Verbindungsglied zwischen Menschen, zwischen einem “Wir“ und “Euch“ und einem „Ich“ und “Du“.
Die Entwicklungen im technischen Bereich sind explosionsartig. Dennoch bleibt der besondere Wert direkter face-to-face-Interaktion
unantastbar. Das sinnliche Erleben eines anderen Menschen und das Empfinden von Atmosphäre zwischen zwei
Dialogpartner*innen ist nur dort so umfassend und intensiv möglich. Familie kann dafür einen vertrauten Raum bieten.
4. Fazit
Durch den Digitalisierungsprozess stellen sich in Familie viele (neue) Fragen:
Was dürfen die Kinder digital, was nicht?
Was kann ich als Vater/Mutter erlauben, was sollte ich verbieten?
Welche Kontrolle muss ich als erwachsene verantwortliche Person über die digitale Aktivität meines Kindes behalten?
Wie können Eltern ihrer Erziehungsverantwortung gerecht werden?
Jede*r hat das Recht auf Privatsphäre und auf selbstbestimmtes Handeln. Wie können Familien zu Absprachen kommen,
bei denen diese Rechte für jedes Familienmitglied gewahrt bleiben?
Wie können Familien ihre Kommunikationsstruktur gestalten und eine gute Balance zwischen digital und nicht digital herstellen?
Welche Regeln vereinbaren wir innerhalb der Familie im Hinblick auf Datenfreigabe und Medienkonsum?
Wie können Familien präventiv im Hinblick auf Risiken wie Cybermobbing oder Internetsucht wirken?
Wie können Eltern einen sinnvollen und gesicherten Umgang ihrer Kinder mit dem Internet fördern?
Wie kommunizieren wir innerhalb der Familie über das Thema Kommunikation? Wie gehen wir mit Konflikten um?
Das Finden von Antworten auf diese und ähnliche Fragen ist sicher nicht einfach. Sicher ist:
Kinder brauchen eine altersangemessene Begleitung in der digitalen Welt!
Eltern müssen auf Basis eigener Erfahrungen und eigenen Wissens verantwortungsbewusste Entscheidungen treffen.
Die Gesellschaft muss Medienkompetenz umfassend fördern.
Gefragt sind daher verschiedene Gruppen: Die Familienmitglieder selber, aber auch Mitgestaltende der Bildungslandschaft
(z. B. Verantwortliche in Kindertagesstätten, Schulen und im Bereich außerschulischer Bildung; Politiker*innen,
die die Rahmenbedingungen schaffen; Wissenschaftler*innen; Verantwortliche in der Wirtschaft, Verantwortliche in Kirche und Verbänden).
Gefragt sind wir alle!
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!